Wie Jacqueline Hassink in Zen-Tempeln fotografiert

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Jacqueline Hassink: Shisend-do 8, Spring, May 2009 (Courtesy Hatje Cantz)

Gedanken zum Buch „View, Kyoto“ aus dem Hatje Cantz Verlag

Auf die Frage nach den schönsten Orten der Welt antworte ich: Hawaii, womöglich Paris, ganz gewiss jedoch einige Gärten in Kyoto. „Schön“ ist dabei kein verlässlicher Terminus, jedoch einer, der gerade im Zusammenhang mit Fotografie häufig im Gebrauch ist. Ich meine damit mehr als dass etwas angenehm aussieht. Ich spreche von einem Ort, der die Seele berührt und das eigene Leben im Positiven verändert, einem Ort, an dem man Zuflucht suchen kann, weil er auf besondere Weise Geborgenheit vermittelt. Bilder von Hawaii zeigen Traumstrände und spektakuläre Natur, nicht jedoch das überwältigende Empfinden der Naturgewalten um einen herum, das milde Klima, das Gefühl, loslassen zu können. Auf Hawaii ist das eine körperlich erfahrbare Schönheit, in Japan in den Gärten ist es eine geistige. Die in ihrer Konzeption visuell ausgeklügelten, über Jahrhunderte gepflegten und verfeinerten Anlagen vermitteln eine ästhetische Erfahrung, die extrem komplex ist und alle Sinne fordert. Es sind über die Zeitläufte erhaltene, zugleich aber im Verlauf eines Jahres sich wandelnde Bilder. Darum ist es so reizvoll, diese Gärten mehr als einmal zu besuchen. Wie andere gelungene Kunstwerke, werden sie dem Betrachter stets neue visuelle Erfahrungen ermöglichen.
Die 1966 in den Niederlanden geborene Künstlerin Jacqueline Hassink hielt sich über einen Zeitraum von zehn Jahren immer wieder einige Wochen in Kyoto auf, um dort frühmorgens in den Tempeln zu fotografieren. Es gibt etwa 160 Tempel, wenn man die jeweiligen Untertempel mitrechnet. Nicht alle verfügen über nennenswerte Gärten. Sie erhielt zunächst die Erlaubnis in 12 Anlagen zu fotografieren und war am Ende in 40 Tempeln. Es entstand eine Arbeit, die – wie die Tempel – aus einem Hauptteil und Nebenteilen besteht.

Jacqueline Hassink: Hosen-in 1, Winter, February 2011 (Courtesy Hatje Cantz)
Jacqueline Hassink: Hosen-in 1, Winter, February 2011 (Courtesy Hatje Cantz)

Im Vorwort zum Bildband erklärt Hassink: „The absence of windows leads the visitor to perceive space in a new way, with no border between the private and the public realm.” … “My initial idea was to create a series of photographs exploring this undefined border between private and public space by photographing the garden from deep inside the temple …” (Seite 7)
Originelle Idee, den Garten aus der Tiefe des Tempels zu fotografieren. Aber warum wird so auf den Gegensätzen zwischen privat und öffentlich insistiert, zumal Zen gerade für die Aufhebung solcher Gegensätze steht? (Sie fotografiert zudem in Räumen, die Besucher sehen, wenn auch vielleicht nicht, so wie sie, betreten dürfen.) Ist nicht das Leben in jedem Kloster typischerweise verbunden mit der Aufhebung von Privatheit? Kann man eine nach dem Ausziehen der Schuhe auf einer Veranda im Sitzen zu betrachtende Gartenanlage, die nicht betreten werden darf, als „öffentlich“ bezeichnen? Klingt „innen“ und „außen“ zu profan? Mir kommt dieses Beharren auf dem kunstmarktgängigen Private/Public-Unterschied bezogen auf Räume des Zen-Buddhismus höchst unpassend vor. Werden hier „höherwertige“ Begriffe appliziert, damit diese Arbeit zu den anderen Serien von Jacqueline Hassink besser passt? Interessante, dokumentarisch-schlichte Arbeiten im übrigen, wie „The Table of Power“ oder „Haute Couture Fitting Rooms, Paris“, bei denen tatsächlich etwas gezeigt wird, das normalerweise nicht zugänglich und quasi privat ist.

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Jacqueline Hassink: Entsu-ji 1, Fall, November 2008 (Screenshot, verlinkt zu Hatje Cantz)

 

Die Aneignung des Motivs durch den Künstler

Es gibt ja bei einem Projekt stets die spannende Frage, wie man tradierten und oft fotografierten Gegebenheiten eine eigene Sichtweise abgewinnt. Jacqueline Hassink gelingt das, es geht sogar noch darüber hinaus. Sie dokumentiert ihre Anwesenheit durch die Veränderung der Sichtachsen. Das ist gelegentlich irritierend, wie im Fall des Entsu-ji, bei dem der Garten auf den Berg Hiei konzipiert ist – ein berühmtes Beispiel für geborgte Landschaft. Die Mönche konnten mit dem Argument, dass die Bergsicht zum Kloster gehöre, gar einen Hotelbau verhindern. Hassink konzentriert sich bei ihrer Aufnahme im November 2008 auf die Laubfärbung und lässt den Hiei hinter Verandapfosten verschwinden. Absicht?
„I think my point of view is sometimes very untraditional“, sagt sie im Gespräch mit dem Wissenschaftler Gert van Tonder (Seite 178). Im Verlauf der Arbeit an dem Fotoprojekt legt Hassink die an einem solchen Ort ganz natürliche Ehrfurcht vor den Gegebenheiten ab, als ihr zwei Äbte erlauben, die undurchsichtigen Shojis zu öffnen und so neue große Räume zu schaffen: „I worked with the material of the temple to create unusual photographic compositions based on sculptural considerations.“ (Seite 7)

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Jacqueline Hassink: Shunkoin 33, March 2009 (Courtesy Hatje Cantz)

Jacqueline Hassink ist eine Konzeptkünstlerin, die im Buch immer wieder betont, sie komme von der Bildhauerei. Hier realisiert sie ihr Künstler-Ich in Zen-Tempeln, also an Orten, an denen die Abgrenzung zwischen Ich und Nicht-Ich aufgehoben ist. Dieser Anspruch, sich als Künstlerin in diesen jahrhundertealten Gebäuden und Traditionen sichtbar zu machen, in einer Kultur, in der es genau dieses Bewusstsein des westlichen individuierten Ichs gar nicht gibt, ist es wohl, die mich zu der Arbeit auf Distanz hält. Je mehr ich diese Haltung in den Bildern erkenne, desto mehr vermisse ich die Kontemplation und Ichlosigkeit des Ortes. Das macht dieses Fotoprojekt von Hassink für mich so interessant, aber auch so zwiespältig. Ihre Energie, Ausdauer, den künstlerischen Willen und die perfekt wirkende Präsentationsstrategie bewundere ich sehr. Schade nur, dass die Bilder durch das analoge Mittelformat keine den detailreichen Motiven zu wünschende optimale Auflösung bieten.

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Beschriftung gesehen auf der Unseen 2013. Die Preise der Bilder liegen je nach Format zwischen 3.500 und 15.200 Euro.

Das im Verlag Hatje Cantz erschienene Buch „View, Kyoto“ wurde von Irma Boom und Akiko Wakabayashi aufwendig designed. Der Umschlag in Kirschblütenrosa und dunklem Moosgrün erinnert mit seiner Faltung an Origami (siehe Artikelbild). Dem jeweils doppelseitigen Bildteil folgt ab Seite 160 eine ausführliche Dokumentation der Aufnahmeorte und der Arbeitsweise. Abgedruckt ist zum Beispiel der Spendenumschlag an die Tempel sowie der auf japanisch verfasste Einführungsbrief. „My assistant approached 80 Buddhist temples in Kyoto to get permission to photograph the gardens.” (S. 165) Es entstand zusätzlich zu den Fotografien ein 21minütiger Film, aus dem die Interviews mit den Mönchen als Text wiedergegeben werden. Weiterhin abgedruckt ist „A Conversation with Gert van Tonder“, zu der akribisch notiert wird, sie habe am 24. März 2014 zwischen 12.30 und 13.23, 53 Minuten lang im Tempel Shunkoin, Kyoto, stattgefunden. Reproduziert sind auch zahlreiche Seiten aus den Reisetagebüchern der Künstlerin, die in New York lebt. Durchaus viel Raum nehmen ihre Porträts als Maiko ein. Diese Art Selbstporträt des Künstlers im Kostüm kennen wir von Martin Parr. Bei Hassink ist es aber nicht lustig gemeint.

Resümierend ist das ein aufwendiges, bewundernswert durchgeführtes Konzept. Jeder, der (heimlich?) Ambitionen in Richtung Galerie und Museum hegt, kann hier einmal mustergültiges Kunstmarketing studieren – vom spektakulären, mit vielen Bedeutungen aufgeladenen Motivgebiet über die persönliche Geschichte und Erinnerungstücke der Künstlerin bis hin zum organisierten Interview und einem Film. Vor der Leistung, so etwas realisieren, hege ich großen Respekt – und erst recht davor, dies in Japan zu schaffen. Mich hat der Bildband lange beschäftigt – was prinzipiell ein Kompliment ist – und ich finde ihn lehrreich, eine perfekte „Illustration“, zu dem, was ich in „Fotografie mit Leidenschaft“ erläutert habe.
„View, Kyoto“ ist ein hervorragend produziertes Buch, das hoffentlich den einen oder anderen anregen wird, sich einige der faszinierenden Tempelgärten in Kyoto selbst anzusehen.

Jacqueline Hassink: View, Kyoto. On Japanese Gardens and Temples
Texte von Jacqueline Hassink, Interview von Gert van Tonder, Gestaltung von Irma Boom Office, Englisch
Hatje Cantz Verlag, 2014. 204 Seiten, 311 Abb., 28,90 x 35,40 cm, gebunden, 68 Euro
ISBN 978-3-7757-3910-8